von Tessie Castillo
“Kommissar Muyshondt, entschuldigen Sie bitte die Störung”, sagte eine Stimme am Telefon. “Wir haben Ihren Bruder heute Morgen verhaftet. Ich dachte mir, Sie sollten es wissen.”
Am anderen Ende der Linie schloss Officer Peter Muyshondt die Augen und atmete tief ein und aus. Nicht schon wieder.
“Danke für die Vorwarnung”, antwortete Muyshondt auf Niederländisch, der mehrheitlich gesprochenen Sprache in seiner Heimatstadt Antwerpen in Belgien. “Ich komme zu ihm.”
Er legte den Hörer auf, voller Wut und Enttäuschung. Es war schon peinlich genug, jeden Tag in seinem Polizeiwagen durch Antwerpens berüchtigtstes Drogenviertel zu fahren und seinem kleinen Bruder Tom zusehen zu müssen, wie er die Gesetze brach, die Muyshondt geschworen hatte zu bewahren. Aber Tom jedes Mal im Gefängnis zu besuchen, wenn er verhaftet wurde und so zu tun, als ob er die Blicke und das Geflüster der Kolleg:innen nicht bemerkt hatte, wenn sie über den Polizisten mit dem kriminellen Bruder lästerten… Das war manchmal mehr, als er ertragen konnte.
Mit einem Seufzer machte sich Muyshondt auf den Weg zum Gefängnis. Nach den Sicherheitskontrollen setzte er sich seinem Bruder in der Besucherkabine gegenüber und hob den Hörer ab, ihre einzige Verbindung durch die dicke Plexiglaswand. Er wollte mit Tom schimpfen. Aber ein Blick auf das freche Grinsen seines Bruders und Muyshondt konnte das Lächeln, das sich über sein Gesicht ausbreitete, nicht aufhalten.
“Der Gute ist endlich aufgetaucht, um den Bösen zu besuchen!”, scherzte Tom.
Muyshondt lachte und plötzlich waren sie wieder Kinder, zwei Brüder, die allerlei Unruhe über die ländliche Gegend brachten, in der sie in Zentralbelgien aufwuchsen, während sie versuchten, sich gegenseitig vor der Flüchtigkeit ihres Familienlebens zu schützen. Als Jugendliche hatten sie beide ihre Art des Auswegs gefunden: Peter ging auf eine straff organisierte Militärschule, in der ihm die Disziplin und die Regeln halfen, mit seiner chaotischen Kindheit fertig zu werden; Tom fand in ein Leben, in dem ihm Drogen halfen, dasselbe zu tun.
Damals „glaubte ich wirklich, dass meinem Bruder die Bestrafung durch das Gericht helfen würde, sich von der Sucht zu befreien”, sagte Muyshondt dem Filter Magazine in einem Interview in Brüssel. Dennoch gesteht er, dass er auch damals schon das Vorgehen der Polizei in Frage gestellt hatte, als er zusehen musste wie sein Bruder durch einen Kreislauf von Drogen und Gefängnis ging.
Wenn Sie ein Familienmitglied haben, das Drogen konsumiert, “bekommen Sie Tatsachen, die Sie nicht wahrhaben wollen, direkt in Ihr Gesicht [und] Sie beginnen zu reflektieren”, sagte er. Als er seinen Bruder hinter Gittern sah, dachte er zum ersten Mal darüber nach, was für ein gefährlicher Ort das Gefängnis sein könnte, welche Gewalt und Überfälle auf seinen Bruder in jeder Zelle und in jeder Duschkabine warten könnten. Und dann dachte er darüber nach, wie viele Brüder anderer Leute er dort hingebracht hatte, ohne dass er sich um deren Sicherheit Gedanken gemacht hatte.
“Frust und Wut gegen alles und nichts.”
Trotz der ständig drohenden Inhaftierung und der Gefahren, die von unregulierten Straßendrogen ausgehen, glaubte Muyshondt, dass sein Bruder schon irgendwie klarkommen würde. Die Mitteilung im Juli 2006, dass Tom an einer Überdosis gestorben war, traf ihn daher vollkommen unvorbereitet.
Nur eine Woche zuvor hatte Muyshondt Tom in einer Reha-Einrichtung besucht. Wie üblich hatten die beiden gelacht und gescherzt – diesmal über die Vogelhausbaukurse, zu denen Tom im Rahmen seiner Therapie gezwungen worden war.
Muyshondt beschrieb seine Gefühle bei der Nachricht über den Tod seines Bruders als „Frust und Wut gegen alles und nichts“.
Ein legitimer und lebenswichtiger Reformkurs
Toms Tod markierte einen Wendepunkt in Muyshondts Haltung gegenüber Drogen und Drogenpolitik. Er glaubte nun nicht mehr, dass Bestrafung eine Person daran hindern würde, Drogen zu nehmen. Er dachte auch nicht mehr, dass die Drogen selbst das Problem seien. Stattdessen begann er, sich öffentlich gegen die Prohibition auszusprechen – die einen lukrativen illegalen Markt hervorbringt und Menschen wie seinen Bruder in einen ewigen Kreislauf aus Gefängnis und Straße sperrt.
“Die Prohibition funktioniert nicht”, sagte Muyshondt, der nun zwei Bücher geschrieben hat [2015: Broers waren we, 2017: Beleid op speed; Anm. d. Verf.], in denen er die Ineffektivität der Polizeiarbeit gegen Drogen verurteilt. Er argumentiert, dass nur die Legalisierung und Regulierung von Drogen den illegalen Markt austrocknen und den Gemeinschaften ermöglichen wird, sich auf die Prävention von Sucht zu konzentrieren.
Unter Befürworter:innen von Harm Reduction ist es stark umstritten, die Umstimmung von Polizist:innen als wichtigen Teil der Reformbewegung zu begreifen. Viele Menschen, darunter solche, die traumatische Erlebnisse durch die Polizei selbst erfahren oder durch andere mitbekommen haben, halten das Engagement bei der Polizei für unangemessen oder gar für einen Schulterschluss.
Als ich letztes Jahr für das Filter Magazine über den Einsatz von Polizist:innen für Harm Reduction und die damit verbundenen Kontroversen schrieb, erhielt ich eine Flut von Reaktionen, von denen viele recht kritisch waren. In den sozialen Medien beschuldigten mich einige, ich würde die Strafverfolgung unterstützen.
Das tue ich nicht. Wenn es bei der Harm Reduction darum geht, Menschen und Situationen “dort zu begegnen, wo sie sich befinden”, und danach zu streben, die Dinge zu verbessern, indem man das Perfekte nicht zum Feind des Guten macht, erfordert das schwierige Gespräche, die wir führen müssen.
Die Anerkennung dieser Tatsache steht nicht im Widerspruch zur Dringlichkeit, auch tiefere, systembedingte Veränderungen anzustreben.
Die Polizei verursacht in der Ausführung des Drogenkriegs einen großen Schaden, den sie durch ihre Fürsprache aufrechterhält. Die Bekehrung von Polizist:innen reduziert somit den Schaden. Und für viele Bevölkerungsgruppen sind die Aussprachen gegen den Drogenkrieg durch aktuelle oder ehemalige Polizist:innen besonders überzeugend. Die Anerkennung dieser Tatsache steht nicht im Widerspruch zur Dringlichkeit, auch tiefere, systembedingte Veränderungen anzustreben.
Muyshondts Geschichte mag einzigartig sein, weil er einen Bruder hatte, der ihm helfen konnte, seine Augen für die Realität zu öffnen, warum Menschen Drogen konsumieren und wie das Verbot die Zahl der Todesfälle durch Überdosierung erhöht. Aber in mancher Hinsicht sind seine Erfahrungen auch denen anderer ähnlich, die während oder nach einer langen Karriere in der Strafverfolgung Befürworter:innen drogenpolitischer Reformen geworden sind. [Der deutsche Prohibitionskritiker und Richter Andreas Müller hat seinen Bruder auch an die Prohibition verloren. Anm. d. Übers.]
Oft, wenn nicht fast immer, entscheiden sich Leute für die Polizeiarbeit, weil sie den Gemeinschaften dienen wollen, indem sie Verbrechen bekämpfen. Aber im Laufe der Jahre weicht der sternenklare Optimismus oft dem Zweifel, wenn sie sehen, dass dieselben Menschen immer wieder verhaftet werden oder wie der Drogendealer, den sie festgenommen haben, schnell durch einen anderen ersetzt wird – und sie erkennen, dass das Gefängnis eher ein brutaler Übungsplatz für illegales Verhalten als ein Abschreckungsmittel ist.
Ein Drogenfahnder aus New Jersey
Viele Polizist:innen schaffen es, die innere Stimme zu ignorieren, die hinterfragt ob das, was sie tun, wirklich funktioniert. Eine Tragödie kann den Anstoß geben, die Zweifel in Taten umzusetzen.
Lieutenant Detective Nick Bucci trat der New Jersey State Police in den späten 1960er Jahren bei, kurz bevor Präsident Nixon seinen berüchtigten War on Drugs erklärte. In einem Telefoninterview erklärte Bucci dem Filter Magazine, dass die Drogeneinheit, in der er arbeitete, dank eines Zuflusses von Drogenkriegsgeldern fast über Nacht von sieben Polizist:innen auf etwa 75 anwuchs.
Bucci gibt zu, dass Racial Profiling ein großer Teil der Vorgehensweise in seiner Abteilung war.
Er und seine Kollegen begannen, Autos in der Nähe der George Washington Bridge zu observieren. “Du siehst ein Auto, das um 14 Uhr mit drei Typen darin über die Brücke kommt. Du folgst ihnen, wartest darauf, dass sie nicht blinken, wenn sie die Spur wechseln, dann signalisierst du ihnen, anzuhalten, und dir ist klar, dass sie ihr Zeug gerade aus dem Fenster werfen”, sagte er.
Bucci gibt zu, dass Racial Profiling einen großen Teil der Vorgehensweise in seiner Abteilung ausmachte. Wenn Polizist:innen ihr Portfolio an Festnahmen erweitern wollten, gingen sie auf die öffentlich sichtbaren Drogenmärkte in den Innenstädten, wo es leicht war, Schwarze aufzutreiben, die dort Drogen konsumierten und verkauften.
Auf die Frage, ob sich die Polizist:innen jemals schuldig fühlten, eine bereits benachteiligte Bevölkerungsgruppe ausgebeutet zu haben, antwortete Bucci: “Die Polizist:innen wollten befördert werden, und um befördert zu werden, muss man Leute festnehmen.” [Dieses Anreizsystem gibt es bei der deutschen Polizei nicht. Anm. d. Übers.]
Bucci wurde schließlich Lieutenant Commander, mit zwei Dutzend Drogen-Fahnder:innen, die Befehle von ihm entgegennahmen. Sie organisierten Sting-Operations und nahmen Menschen wegen Verbrechen fest, die vom Besitz von Marihuana-Joints bis hin zum Kokainhandel reichten. Es war eine gefährliche Arbeit. Bucci verlor einen Partner durch eine Schießerei bei der Durchsuchung eines Meth-Labors.
Obwohl er die Polizeiarbeit größtenteils genoss, beobachtete er im Laufe der Jahre immer wieder Dinge, die ihn störten. Zum Beispiel, dass, obwohl er und seine Männer Hunderte von Festnahmen wegen Drogenkriminalität vorgenommen haben, der Drogenmarkt weiter florierte, ja sogar expandierte. Die Drogen wurden billiger und reichhaltiger. Schlimmer noch, die Gewalt eskalierte.
„Jedes Mal, wenn wir jemanden festgenommen haben, übernahm jemand anderes den Markt”, sagte er. “Und jedes Mal, wenn jemand anderes den Markt übernahm, tat er es mit einer Waffe.” Ein Phänomen, das als “Freelancer-Effekt” bekannt ist.
Eine Kultur der Fügsamkeit
Bucci war nicht der einzige Polizist mit Fragen. Manchmal äußerten Untergebene ihm gegenüber Zweifel, ob ihre Arbeit wirklich einen positiven Unterschied mache. Obwohl er die gleichen Zweifel hegte, zögerte Bucci nicht, sie daran zu erinnern, dass ihre Aufgabe darin bestand, das Gesetz durchzusetzen und nicht, es in Frage zu stellen.
Dies veranschaulicht, warum es so schwierig ist, Veränderungen innerhalb der Strafverfolgungsbehörden herbeizuführen. Alle, die sich an ihrem Arbeitsplatz einer Mission verschrieben haben, wissen, wie einfach es ist, Informationen zu ignorieren oder zu verwerfen, die dieser Mission zuwiderlaufen. Viele, vielleicht die meisten, entscheiden sich dann, sofern sie sich in der Minderheit befinden, die Organisation lieber zu verlassen, statt zu bleiben und Unannehmlichkeiten zu bereiten.
Dieses Phänomen des eigenen Zurücknehmens ist nicht nur bei Strafverfolgungsbehörden zu beobachten. Ein Christ, der plötzlich an seinem Glauben zweifelt, wird eher die Kirche verlassen, anstatt zu bleiben und andere davon zu überzeugen, auf ihren Glauben zu verzichten. Eine Mitarbeiterin einer gemeinnützigen Organisation, die anfängt, ihre Arbeit in Frage zu stellen, wird eher kündigen als bleiben, um die Ziele der Organisation zu ändern.
Wie beim Militär wird auch den Mitarbeiter:innen von Strafverfolgungsbehörden beigebracht, Befehle zu befolgen und nicht sie zu hinterfragen.
Innerhalb der Polizeibehörden wird dieser natürliche Prozess durch die Tatsache verstärkt, dass die Arbeit der Strafverfolgung so strukturiert ist, dass sie Individualität oder Veränderung besonders abschreckt. Wie beim Militär (und kein Wunder, dass es eine gegenseitige Befruchtung zwischen den beiden gibt) wird auch den Mitarbeiter:innen von Strafverfolgungsbehörden beigebracht, Befehle zu befolgen und nicht sie zu hinterfragen.
Darüber hinaus werden finanzielle und berufliche Anreize in die Strafverfolgungsbehörden eingebaut, sodass Mitarbeiter:innen und Abteilungen auf Grundlage der Anzahl der Verhaftungen oder der Sicherstellungen von Drogen belohnt werden, nicht danach, ob diese Taktiken etwas tun, um chaotischem Drogenkonsum vorzubeugen.
Aber trotz des festgefahrenen Status quo ändern viele Polizist:innen ihre Meinung über den Drogenkrieg. Nick Bucci, der einst seinen Mitarbeiter:innen befahl, ihre Arbeit zu erledigen ohne diese zu hinterfragen, ist so jemand. Der einschneidende Moment kam, als seine Offizier:innen eine Razzia in einem Haus durchführten, das kürzlich eine Lieferung von fünf Pfund Marihuana zugestellt wurde. Während der Razzia bekam der 25-jährige Käufer Angst und floh zu Fuß. Einer der Offiziere erschoss ihn.
Obwohl er nur noch ein paar Jahre vor seiner Altersrente war, gab Bucci seine Polizeimarke ab. Er war durch.
“Wir werden die Drogen nie besiegen”, sagte Bucci. “Jedes Mal, wenn Sie eine Marihuana-Verhaftung vornehmen, wird diese Person ihren Führerschein und ihre Arbeit verlieren. Wenn sie in gefördertem Wohnen lebt, wird sie rausgeschmissen… Die Polizei sollte sich nicht mit moralischen Fragen beschäftigen.”
Bucci arbeitet jetzt für Law Enforcement Action Partnership (LEAP*), eine Gruppe von aktiven und pensionierten Mitarbeiter:innen von Strafverfolgungsbehörden, die das Bewusstsein für das Scheitern des Drogenkriegs schärfen und auf eine alternative Drogenpolitik drängen, die auf Beweisen und Wirksamkeit beruht.
Ein verdeckter Ermittler
Auf der anderen Seite des Atlantiks reist Nic Castle, ein pensionierter Police Constable aus Cheshire im Vereinigten Königreich, ebenfalls für LEAP durch das Land und spricht mit seinen Kolleg:innen über die Notwendigkeit von Veränderungen.
Interessanterweise begann Castle seine Harm Reduction-Karriere, indem er ein Nadelaustausch- und Methadonprogramm in Lancashire durchführte, bevor er der Polizei beitrat, um (wie er es damals sah) Drogenkonsument:innen zu helfen, indem er ihre Dealer verhaftete.
Wegen seiner bisherigen Arbeit wurde Castle schnell als Undercover-Cop eingesetzt. Seine Aufgabe war es, sich mit Drogenkonsument:innen anzufreunden, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie zu überzeugen, die Standorte ihrer Dealer preiszugeben. Ironischerweise war er gut darin, weil er die Menschen mochte, die Drogen konsumierten und mit ihnen sympathisierte – eine Haltung, die sich auf einen großen Teil der Polizei nicht übertragen ließ.
“Viele Polizist:innen sehen [Drogenkonsument:innen] als Drecksäcke, die verdienen, was sie bekommen. Das hat auch rassistische Gründe”, sagte er zum Filter Magazine. “Meine Überzeugung war schon immer, dass sie vielleicht Drogenkonsument:innen sind, aber immer noch Menschen.”
Castle hörte sich die Geschichten der Menschen an, die er auf der Straße traf und erfuhr von ihren Wegen in die Obdachlosigkeit und in ihre Sucht. “Die meisten von ihnen nehmen Drogen, weil ihnen etwas zugestoßen ist”, sagte er. “Sie sind Opfer von Verbrechen, psychischer Gewalt oder finanziellen Schwierigkeiten.”
“Wir haben Menschen festgenommen, die Hilfe brauchten, und was haben wir getan? Wir haben sie getreten, als sie am Boden lagen.”
Nachdem er Beziehungen zu Leuten aufgebaut hatte, konnte er sie meistens davon überzeugen, Drogen für ihn zu kaufen, wobei sie im Gegenzug die Hälfte behalten konnten. Mit der Zeit würde er den Dealern vielleicht vorgestellt werden. Castle und seine Kolleg:innen verbrachten Monate in einer bestimmten Gegend, bauten Vertrauen auf und erstellten eine Liste von Personen, die an Drogendelikten beteiligt waren. Es war ein riskanter Job, nicht nur für ihn, sondern auch für die Drogenkonsument:innen, mit denen er in Verbindung stand.
“Die Drogengebraucher:innen standen die ganze Zeit unter Beobachtung”, sagte er. “Wenn sie der Polizei jemanden vorstellten oder Informationen an die Polizei weitergaben, wurden sie dafür bestraft.”
Castle’s Undercover-Operationen führten zu Hunderten von Festnahmen, nachdem er seinen Kolleg:innen die sorgfältig eingeholten Informationen über die Drogenmärkte zur Verfügung gestellt hatte. Aber zu seinem Bedauern nahmen sie meistens genau die Leute fest, mit denen er sich angefreundet hatte – diejenigen, die ihre herzzerreißende Geschichten mit ihm geteilt hatten, ohne zu wissen, dass sie mit jemandem sprachen, der sie bald verraten würde. Weil sie Drogen gekauft und Castle gebracht hatten, wurden einige seiner Kontakte als Drogenlieferant:innen angeklagt und erhielten Haftstrafen von vier bis fünf Jahren.
2006 schließlich, als er sah, wie viel Schaden er den Menschen zufügte, die Hilfe brauchten, hatte Castle die Nase voll. Er gab seine Marke ab und trat von der Polizeiarbeit zurück.
“Ich glaubte, dass das, was ich tat, moralisch falsch war und dass die Menschen, die der Drogenkrieg angriff, oft die Menschen waren, die Hilfe und Unterstützung brauchten”, sagte Castle, der am Telefon stark bewegt war, als unser Interview zu Ende ging. “[Die Polizei] nahm Menschen, die Hilfe brauchten, fest, und was haben wir getan? Wir haben sie getreten, als sie am Boden lagen.”
Heute reist Castle durch Großbritannien und spricht mit anderen Polizist:innen über die Probleme des Drogenverbots. “Indem wir diesen Krieg führen, schaffen wir mehr Gewalt und geben den Gangstern, die [die Drogenmärkte] betreiben, mehr Macht”, sagte er.
Mit Herz und Verstand
Wie Muyshondt und Bucci glaubt auch Castle, dass der Schlüssel zum Ändern der Meinungen und Einstellungen der Polizei zum Drogenkrieg darin besteht, dass sie genau diese Nachricht von ihren Kolleg:innen erhalten.
“Die Polizei muss ihre Augen öffnen und anerkennen, dass der Drogenkrieg nicht nur nicht funktioniert, sondern dass wir zum Problem beitragen”, sagte Castle. “In Gesprächen mit Polizist:innen, die in Rente gehen, bin ich immer wieder überrascht, wie viele von ihnen das durchaus so sehen.”
Bucci sagt, dass er Fortschritte mit der Polizei macht, wenn er auf den sich selbst aufrechterhaltenden Zyklus des Drogenkriegs hinweist: Ein Eintrag im Strafregister macht es der Person unmöglich, einer regulären Arbeit nachzugehen und drängt sie vielmehr in die Lage, sich aus wirtschaftlichen Gründen an den illegalen Markt zu wenden – eine Tatsache, so Bucci, über die sich unfassbar wenig Polizist:innen im Klaren seien.
Ein paar Gespräche unten den Mitarbeiter:innen von Strafverfolgungsbehörden, von denen viele bereits im Ruhestand sind, reichen natürlich nicht für einen Anstoß zum tiefergreifenden Wandel aus. Und sicherlich ist es nicht der einzige Weg, den Drogenkrieg in Frage zu stellen.
Wir müssen auch die Drogengesetze reformieren, den strukturellen Rassismus in der Gesellschaft und in den Strafverfolgungsbehörden bekämpfen, die Systeme perverser finanzieller Anreize abbauen, die den Drogenkrieg im Strafrechtssystem verankern, und uns ein Vorbild an den Staaten und Ländern nehmen, die bereits einige Drogen entkriminalisiert oder legalisiert haben.
Wir brauchen eine kritische Masse an Personen mit Erfahrung in Strafverfolgungsbehörden, um das zu tun, was Muyshondt, Bucci und Castle getan haben – erstens aufhören, Schaden anzurichten. Dann Wiedergutmachung leisten.
Aber zwei Ansätze können gleichermaßen wertvoll sein. Da die Strafverfolgungsbehörden oft selbst aktiv gegen Veränderungen kämpfen, wird es schwer sein, erkennbare Fortschritte zu bewirken. Zumindest brauchen wir eine kritische Masse an Personen mit Erfahrungen in Strafverfolgungsbehörden, um das zu tun, was Muyshondt, Bucci und Castle getan haben – erstens aufhören, Schaden anzurichten. Dann Wiedergutmachung leisten.
“Polizist:innen sind leicht zu gewinnen”, sagte Muyshondt in seiner abgebrühten Art. Wenn sich die allgemeine Einstellung zu Drogen ändert, glaubt er, dann werden die Mitarbeiter:innen der Strafverfolgungsbehörden den neuen Entwicklungen wohl genauso aufmerksam folgen wie aktuell den jetzigen.
Castle glaubt, dass wir, um Herz und Verstand der Polizei zu bewegen, die allgemeinen Debatten über Drogen ändern müssen. Wir müssen “uns den wirklichen Problemen öffnen”, sagte er. “Kindesmissbrauch, häusliche Gewalt und das Problem, dass es sich einige Menschen nicht leisten können, in bestimmten Gegenden des Landes zu leben. Bis wir anfangen anzuerkennen, dass dies die eigentlichen Probleme sind, die einige Menschen zu Drogen führen, werden wir kein wahres Bild davon erhalten können.”
Grundlegender Wandel beginnt, ebenso wie Revolutionen, mit persönlichen Gesprächen. Zuerst mag es nicht so aussehen, als hätten ein paar neue Verbündete viel Einfluss auf das System als Ganzes, aber diese Verbündeten sind das trockene Stroh, das auf einen überspringenden Funken wartet. Die Aufgabe der aktiven und pensionierten Mitarbeiter:innen von Strafverfolgungsbehörden, die die Realität des Drogenkriegs erkennen, besteht darin, dieses Stroh auszulegen, sodass das Feuer, wenn es endlich einsetzt, nicht mehr zu stoppen ist.
Tessie Castillo ist Autorin, lebt in Raleigh, North Carolina, USA und plädiert für drogenpolitische Reformen. In ihren Artikeln erörtert sie Themen wie Strafrechtsreformen, Drogenpolitik und Harm Reduction. Sie hat bei der North Carolina Harm Reduction Coalition die Kommunikation und politische Strategie geleitet – eine NGO, die sich für drogenpolitische Reformen und Strafrechtsreformen einsetzt. Sie hat wesentlich zur Legalisierung von Spritzenaustauschprogrammen und Verbreitung von Naloxonprogrammen beigetragen. Mehr von ihr auf ihrer Website und auf Instagram.
Der Artikel ist ursprünglich am 17.9.2019 im Filter Magazine erschienen, ein englischsprachiges Online-Magazin über Drogengebrauch, Drogenpolitik und Menschenrechte. Folgen Sie Filter auf Facebook und Twitter. Abonnieren Sie den Newsletter hier.
*LEAP US ist ein finanzieller Sponsor der Influence Foundation, die das Filter Magazine betreibt.
Der Artikel wurde von Philine Edbauer mit Unterstützung durch die LEAP-Mitglieder Musa Saglam und Felix Bölter ins Deutsche übersetzt.