Alle Jahre wieder…

Meistens passiert es im April eines jeden Jahres. Drei gestandene Männer – Frauen hat es auf dieser Veranstaltung tatsächlich noch nie gegeben – treten vor die Bundespressekonferenz und haben wichtiges zu verkünden, nämlich ihre Einschätzung der Sicherheitslage in der Republik dargestellt anhand der Fallzahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS).

In diesem Jahr war es der 15.04. an dem die Akteure angeführt von  Bundesinnenminister Horst Seehofer und assistiert vom derzeitigen Vorsitzenden der Innenministerkonferenz und Innenminister von Baden-Württemberg Thomas Strobl sowie dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes Holger Münch mal wieder Erfreuliches zu berichten hatten. Gut gelaunt erklärt der Bundesinnenminister, dass Deutschland auch im Jahre 2020 eines der sichersten Länder der Welt bleibt. Die durch die Polizei registrierte Kriminalität geht seit Jahren zurück und befindet sich 2020 mit über einer Million Straftaten weniger gegenüber 2016 auf dem niedrigsten Stand seit 1993. Rückläufig sind ebenfalls die als besonders sozialschädlich angesehenen Straftaten der Gewaltkriminalität (minus 2,3% gegenüber 2019) sowie der Wohnungseinbruchsdiebstahl (minus 13,9% gegenüber 2019). Ein wenig Wasser in den Wein der guten Nachrichten gießen dann der Landesinnenminister und der Präsident des Bundeskriminalamtes, indem sie – wenig überraschend – feststellen, dass sich Kriminalität zunehmend in den digitalen Raum verlagert und damit die Fallzahlen der Cyberkriminalität sowie, vielleicht auch durch die Corona-Pandemie bedingt, des Subventionsbetrugs ansteigen.

Aber alle sind sich einig, die Gesamtentwicklung ist positiv und das kann dann auch gut mit einem Lob für die Polizistinnen und Polizisten  aus dem Mund des Bundesinnenministers verbunden werden, die hervorragende Arbeit leisten, insbesondere wenn man bedenkt, dass die rückläufigen Fallzahlen mit einem Anstieg der Gesamtbevölkerung unter anderem durch Zuwanderung verbunden sind. Es mag hier dahingestellt bleiben, ob die Entwicklung der Zahlen der PKS wirklich ein Indikator für die Qualität polizeilicher Ermittlungstätigkeit ist oder lediglich den Umfang der polizeilichen Arbeit widerspiegelt. Aber wie dem auch sei, trotz aller gelegentlich aufgeregten öffentlichen Diskussionen auch in einem Großteil der Medien häufig im Zusammenhang mit spektakulären Einzelfällen, die Kriminalitätsbelastung in Deutschland ist stabil rückläufig und auch unter Einbeziehung kriminologischer Dunkelfeldforschung können wir hier (relativ) sicher leben.

Ein Deliktsbereich widersetzt sich jedoch seit Jahren oder besser gesagt sogar seit Jahrzehnten diesem positiven Trend mit hartnäckig steigenden Fallzahlen.  Es handelt hierbei sich um Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) oder in der Terminologie der PKS um Rauschgiftdelikte.   

 

Tabelle 1 (PKS Rauschgiftdelikte, Zeitreihe 2012 – 2020)

 

 

Noch nie sind in Deutschland mit 365.753 polizeilichen Ermittlungsverfahren so viele Rauschgiftdelikte registriert worden wie 2020. Wie der Entwicklung der Fallzahlen seit 2012 zu entnehmen ist, beruht der kontinuierliche Anstieg ganz überwiegend auf einer Zunahme der allgemeinen Verstöße nach § 29 Ab. 1 BtMG (s. Tabelle 1). Diese Vorschrift stellt unter anderem den Erwerb oder Besitz von Betäubungsmitteln unter Strafe, sofern die Tatbegehung nicht gewerbsmäßig erfolgt, es sich um geringe Mengen handelt und die Tat nicht als Mitglied einer Bande begangen wird. Im allgemeinen Sprachgebrauch handelt es sich hierbei um die konsumnahen Delikte, also die Delikte, bei denen fast ausschließlich Drogenkonsumierende in den Fokus der Strafverfolgungsbehörden geraten.

In der zuvor genannten Zeitreihe haben diese Delikte um ca. 66 % von 173.337 Ermittlungsverfahren im Jahr 2012 auf 287.773 im Jahr 2020 zugenommen. Bei den Handelsdelikten, die regelmäßig Personen betreffen, die auf der Angebotsseite des Drogenmarktes tätig sind, betrug der Anstieg im selben Zeitraum vergleichsweise bescheidene 10 %.

Der Blick auf die längerfristige Entwicklung der polizeilichen Ermittlungsverfahren bestätigt den zuvor zahlenmäßig belegten Eindruck: entgegen allen gelegentlichen Aussagen von Bundesdrogenbeauftragten, Sicherheitsverantwortlichen, Politikern und Politikerinnen sowie der Leitungsebene der Polizei verfolgt die Polizei nicht in erster Linie diejenigen, die den Anbau, den Handel und die Verteilung sowie den Verkauf illegalen Substanzen als Mitglieder krimineller Organisationen kontrollieren, sondern macht in der überwiegenden Mehrzahl ihrer Aktivitäten zum Vollzug des Betäubungsmittelgesetzes „Jagd auf Kiffer“.  

Die Darstellung der Fallzahlen in Tabelle 2 beginnend im Jahr 1987 (soweit lässt sich anhand  der aktuellen Vorlage der PKS durch das Bundeskriminalamt die Entwicklung zurückverfolgen) verdeutlicht, dass der Anstieg der Deliktszahlen nach dem BtMG insgesamt und der konsumnahen Delikte nahezu parallel erfolgt. Die Gesamtzahl hat sich in diesem Zeitraum fast verfünffacht, die Zahl der konsumnahen Delikte fast versechsfacht. Auch in diesem Zeitraum von fast 35 Jahren vollzieht sich dagegen der Anstieg der Handelsdelikte mit aktuell 54.356 Ermittlungsverfahren gegenüber 27.664 im Jahr 1987 eher moderat. Und noch etwas ergibt sich aus der Analyse der polizeilich registrierten Ermittlungsverfahren: ca. 2/3 aller BtMG-Verfahren betreffen unabhängig vom Deliktstyp und vom Jahr der Erhebung Cannabis oder deren Zubereitungsformen als zugrundeliegende Substanz.

 

Tabelle 2 (Entwicklung ausgewählter Delikte nach dem BtMG 1987 – 2020)

 

Die Zahlen der PKS bilden das sogenannte polizeiliche Hellfeld ab, was bedeutet, dass die Polizei natürlich nur das registrieren kann, von dem sie Kenntnis erlangt hat. Aber der kontinuierliche Anstieg der Fallzahlen in Verbindung mit den Ergebnissen von Erhebungen zum selbstberichteten Konsum etwa durch die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen oder die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht belegt, dass die mit der Verabschiedung des BtMG verfolgte Zielsetzung, durch die Strafbarkeit aller Umgangsformen mit den  vom  Gesetz umfassten Substanzen generalpräventiv potentielle Konsumierende vom Konsum abzuhalten, evident gescheitert ist. Ganz im Gegenteil, das Geschehen am Drogenmarkt zeigt, dass sich dies weitestgehend unabhängig von den Straftatbeständen des BtMG vollzieht, oder anders ausgedrückt, die weiterhin vorhandene und im Trend steigende Nachfrage nach psychoaktiven Substanzen trifft auf das entsprechende Angebot. So einfach ist das, und wenn die Nachfrage nicht legal befriedigt werden kann haben wir die klassische Ausgangslage für das Entstehen krimineller Organisationen auf der Angebotsseite, insbesondere dann, wenn dadurch exorbitante Profite erzielt werden können. Die Ergebnisse der Alkoholprohibition in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts in den USA lassen grüßen. Dass  16 Tonnen Kokain im Hamburger Hafen wegen illegaler Einfuhr beschlagnahmt und nicht wie Soja oder noch besser Hopfen an den Rohstoffbörsen dieser Welt gehandelt werden, ist kein Naturgesetz sondern Ergebnis dieser repressiven Drogenpolitik.

Warum dieses Investment der Polizei und der weiteren Strafverfolgungsbehörden in Personal und materielle Ressourcen in einen „Krieg gegen die Drogen“ und deren Konsumenten, den sie offenkundig nicht gewinnen können? 

Eine erste Antwort auf diese Frage ist naheliegend. Die Polizei ist zuständig für die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten im Rahmen der Gefahrenabwehr und die Verfolgung begangener Delikte als Maßnahmen der Strafverfolgung. Die Befugnisse der Polizei zur Gefahrenabwehr ergeben sich aus den Polizeigesetzen der Bundesländer, die zur Strafverfolgung aus der bundeseinheitlich geltenden Strafprozessordnung. Im Rahmen der Strafverfolgung gilt in Deutschland im Unterschied zum Gefahrenabwehrrecht das Legalitätsprinzip. Bei einem Anfangsverdacht auf Vorliegen einer Straftat muss die Polizei die zur Ermittlung des Sachverhaltes erforderlichen Maßnahmen ergreifen und darf nicht aus Opportunitätsgesichtspunkten („Wir haben Wichtigeres zu tun“) darauf verzichten. Die Nichtdurchführung der erforderlichen Ermittlungen ist als Strafvereitelung im Amt selbst eine Straftat. Wenn denn also die drogenbezogenen Aktivitäten zunehmen ist es doch selbstverständlich, dass auch die Fallzahlen der an Recht und Gesetz gebundenen Strafverfolgungsbehörden steigen.

Aber diese Argumentation ist in der Realität nur eine Seite der Medaille. In mehr als 90 % aller durch die Polizei ermittelten Straftaten ergibt sich der Anfangsverdacht durch Anzeigen Betroffener als Opfer oder Zeuge einer Straftat. Nur der kleine Rest ergibt sich aus aktiver Tätigkeit der Polizei durch Aufklärungsmaßnahmen. Im Bereich der Delikte auf der Grundlage des BtMG kehrt sich dieses Verhältnis um. Es gibt so gut wie keine Anzeigen, weil sich niemand als Opfer fühlt und es demzufolge kein an die Polizei adressiertes Aufklärungsinteresse gibt. Die Generierung des Anfangverdachts ergibt sich bei den Drogendelikten fast ausschließlich auf der Grundlage  von polizeilichen Aktivitäten, beispielsweise aus dem Einsatz verdeckter Ermittler, längerfristige Observationsmaßnahmen in Zivil zum Nachweis des fortgesetzten gewerbsmäßigen Handels oder, seit einigen Jahren zunehmend, aus groß angelegten Kontrollaktionen im Drogenmilieu, den sogenannten Razzien. Drogenkriminalität wird daher zutreffend als „opferloses Kontrolldelikt“ bezeichnet. Dies bedeutet im Ergebnis, dass der seit Jahren zu beobachtende kontinuierliche Anstieg der Ermittlungsverfahren und insbesondere der der konsumnahen Delikte darauf zurückzuführen ist, dass sich die Polizei veranlasst sieht, den Kontrolldruck auf die Drogenszene durch vermehrten Personal- und Ressourceneinsatz zu erhöhen. 

Es wäre überaus lohnenswert, die dahinterstehenden Motive und Interessen im Rahmen der Polizeitatsachenforschung wissenschaftlich zu untersuchen. Eine derartige Untersuchung mit validen Ergebnissen liegt bisher leider nicht vor.  Aus der Alltagserfahrung von Polizeibediensteten (auch meiner eigenen als langjähriger Polizeipräsident) sowie der Auswertung polizeilicher Lagebilder und von Äußerungen von Angehörigen der Leitungsebene in den Polizeibehörden lassen sich jedoch Ursachen für die Zunahme repressiver Maßnahmen seitens der Strafverfolgungsbehörden erkennen. 

Im Zuge der allgemeinen Diskussion über den Zustand der inneren Sicherheit in Deutschland, der in großen Teilen des öffentlich medialen Diskurses ohne empirische Evidenz (siehe oben) wechselweise als „besorgniserregend“, als „bedrohlich“ oder als sich „ständig verschlechternd“ bewertet wird, sind die Befugnisnormen für die Polizei in den Polizeigesetzen der Länder kontinuierlich ausgeweitet worden. Für unsere Thematik bedeutsam ist die Rechtskonstruktion der Ausweisung eines Ortes als Kriminalitätsschwerpunkt oder als „gefährlicher Ort“. Diese Ausweisung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dort Personen Straftaten von erheblicher Bedeutung verabreden, vorbereiten oder verüben oder aus die sonstigen Gründen einem besonderen Kontrollinteresse unterliegen (vgl. beispielhaft § 12 Abs. 1 Nr. 2 Polizeigesetz des Landes NRW) ermöglicht den Polizeibehörden verdachts- bzw. anlasslose Identitätsfeststellungen und Durchsuchungen von Personen. Die Definitionsmacht für die Festlegung dieser Orte, an denen allein die Anwesenheit polizeiliche Eingriffe ermöglicht, obliegt der Polizei. In einer Vielzahl der Fälle wird die Ausweisung mit der Existenz einer offenen Drogenszene und/oder anderen randständigen Gruppen und der damit verbundenen Kriminalität begründet.

Da darf man sich jedenfalls nicht wundern, dass die Polizei von der ihr durch den Gesetzgeber eingeräumten Befugnis auch Gebrauch macht, und dieses Instrument im Rahmen ihrer jeweiligen Behördenstrategie und ihres Sicherheitsmanagements als Erfolgsfaktor einzusetzen versucht. Polizeiliches Handeln ist hierbei lokal eingebunden in ein Maßnahmenbündel, dass als Ziel die „sichere Stadt“ anstrebt, in der Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit als Standortfaktoren im interkommunalen Wettbewerb sowohl für Investitionsinteressen als auch für den Tourismus und insgesamt als Lebensraum aufgewertet werden sollen. Die Konzentration polizeilicher Maßnahmen auf bestimmte Orte dient dabei nicht in erster Linie der Selbstlegitimation durch Aufklärung von Delikten, öffentlicher Wahrnehmung von Fahndungserfolgen, Verbesserung der Aufklärungsquote, auch wenn hier erzielte „Erfolge“ durchaus ein handlungsleitendes Motiv sind. Bedeutsamer erscheint mir jedoch der Umstand, dass die polizeiliche Arbeit einem öffentlichen Handlungs- und Legitimationsdruck und einer Dynamik unterliegt, bei der Interessen von Investoren, Gewerbetreibenden, der Politik und der Medien sowie von Teilen der Nachbarschaft deutlich und unverhohlen fordern, keine rechtsfreien Räume zu dulden.

Dieser postulierten Gefahr für die innere Sicherheit und das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung können und wollen sich die Strafverfolgungsbehörden nicht entziehen. So entstehen häufig polizeilich definierte Kriminalitätsschwerpunkte, ohne dass die tatsächlich registrierten Delikte dies rechtfertigen. Der damit verbundene Kontroll- und Verdrängungsdruck zulasten von marginalisierten Gruppen lässt sich in fast allen Städten in Deutschland beobachten. Exemplarisch für diese Entwicklung steht das Frankfurter Bahnhofsviertel sowie der Stadtteil St. Georg in Hamburg, beides ehemalige hot-spots der offenen Drogenszene. Im zunehmenden Maße wurden diese innenstadtnahen Quartiere durch Umbau und Sanierung aufgewertet mit der Folge, dass sich neben einer zahlungskräftigen Nachfrage nach Wohnraum und der Verdrängung der bisherigen Wohnbevölkerung dort auch Szenelokale sowie Kultureinrichtungen als Magneten für eine städtische Feier- und Eventkultur etablierten und damit zunehmend ein Milieu entsteht, welches die „Verwahrlosung“ des öffentlichen Raums als störend empfindet.  Als Konsequenz dieser als Gentrifizierung bezeichneten Entwicklung erhöht sich der Kontrolldruck auf die weiterhin vorhandene Drogenszene und andere subkulturelle Milieus durch die Bildung von Task Forces und vermehrter Präsenz der Polizei in diesen Stadtvierteln. Und damit auch das Kriminalisierungsrisiko für Drogenkonsumenten und Drogenkonsumentinnen wie die Fallzahlen der PKS alle Jahre wieder nachdrücklich belegen. 

 

Hubert Wimber

 

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